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reminiscere - "Erinnere dich, damit du unterbrechen kannst" - Predigt von Dr. Marianne Subklew im Einführungsgottesdienst in der Vicelinkirche Sasel am 4.3.07 in die Nordelbische Arbeitsstelle "Gewalt überwinden"
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"Aufbruch", Bronze (2006) vom Bildhauer Axel Richter (www.axel-richter.de); Diese Skulptur stand im Altarraum des Saseler reminiscere-Gottesdienstes, näheres dazu steht in der Predigt |
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Gedenke, Herr,
an deine Barmherzigkeit und Güte.
(Psalm 25,6)
Liebe Schwestern und Brüder,
wir feiern heute den Sonntag reminiscere.
Mit diesem lateinischen Wort beginnt der 6. Vers des 25 Psalms, den wir zu Beginn gebetet haben.
Reminiscere – heißt erinnern, gedenken.
Das passt gut zum Datum von heute.
Der vierte März erinnert uns daran, wie wichtig es ist, sich zu erinnern.
Warum der vierte März?
Heute vor genau 16 Jahren, am 4. März 1991 trat in Moskau der Oberste Sowjet zusammen.
Einziger Tagesordnungspunkt war die Ratifizierung des »Zwei-plus-Vier«-Vertrages.
„Zwei plus vier“ meint die Verhandlungen, die nach dem Fall der Mauer die beiden deutschen Staaten mit den vier Alliierten Amerika, Frankreich, England und der UdSSR geführt haben. Die Sowjetunion war das l e t z t e Land, das den Vertrag unterschreiben musste. Trotz aller Bedenken, wurde am vierten März diesem in Moskau zugestimmt.
Mit der Unterschrift der Sowjetunion trat der »Zwei-plus-Vier«- Vertrag in Kraft.
Und er ist damit quasi der Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges. Neben der Einheit bekam Deutschland seine volle Souveränität über die inneren und äußeren Angelegenheiten zurück. Ich empfinde das als ein Geschenk.
Damit war nicht nur der 2. Weltkrieg, sondern auch der Kalte Krieg völkerrechtlich beendet.
Liebe Schwestern und Brüder,
- Reminiscere
- gedenken.
- erinnern
- heilen
Heilen der Erinnerungen
oder Heilen durch Erinnern.
Das ist ein Programm, das der südafrikanische Priester Michael Lapsley anbietet.
Lapsley weiß, wovon er spricht
und er weiß, was Erinnerung auslösen.
Er hat 1990 durch eine Briefbombe beide Hände und ein Auge verloren.
In seinen Seminaren fragt Michael Lapsley die Teilnehmenden immer: „Welchen Einfluss hat die Geschichte deines Landes auf dein eigenes Leben, auf deine Biografie gehabt?
In Südafrika oder auch Ruanda, wo der Theologe hauptsächlich arbeitet, ist das eine wichtige Frage, weil es immer auch eine Frage ist,
auf welcher Seite man gestanden hat.
Wie ist es aber mit uns?
Eine Gruppe von pommerschen, mecklenburgischen und nordelbischen Pastorinnen, Pastoren und Lehrern nahm im letzten Herbst in Südafrika
an einem Seminar mit Michael Lapsley teil.
Wie beantworten wir die Frage? „Welchen Einfluss hat die Geschichte deines Landes auf dein eigenes Leben, auf deine Biografie gehabt?
Die deutsch - deutsche Teilung hat das Leben der Ostdeutschen
wesentlich mehr beeinflusst als das der Westdeutschen.
Das wurde in unserer Gruppe deutlich.
Das ist nicht verwunderlich, fiel doch der Schatten der Mauer nur in eine Richtung.
Erstaunt waren wir über etwas anderes.
Nämlich, dass in uns a l l e n , den älteren wie den jüngeren,
den ostdeutsch sozialisierten oder den Westdeutsch geprägten,
die Zeit vor der deutschen Teilung auf der Seele liegt:
die Zeit des Nationalsozialismus
und die Zeit des Krieges hat in uns allen
als den Nachgeborenen Spuren hinterlassen.
Weil unsere Eltern und Großeltern Betroffene waren.
Sie waren Täter und Opfer.
Menschen mit gebrochenen Biografien, verlorener
und neu gewonnener Heimat,
schuldbeladen und ohne Orientierung.
Am 4. März 1991, heute vor 16 Jahren, endete diese Zeit völkerrechtlich.
Aber die Erinnerungen bleiben.
* * *
Erinnerung.
Reminscere,
so heißt es in unserm 25. Psalm,
einem alttestamentlichen, jüdischen Lied.
Die jüdische Religion ist eine Religion des guten Gedächtnisses,
sagt der Schriftsteller Manes Sperber in seiner Autobiografie: „Die Wasserträger Gottes.“
Er schreibt:
„Erinnere dich: Was deinen Ahnen irgendeinmal an Unrecht geschehen ist, vergiss es nie, was sie anderen Böses getan haben, denk daran
und an die Gerechtigkeit der Strafe, die sie erlitten haben.
Was ihnen Gutes zugestoßen ist, behalt es im Gedächtnis,
wer Ihnen einen Trunk Wasser gereicht hat,
lösch die Erinnerung an ihn nie aus.
Jedes Mal, wenn du den Fuß auf die Stelle setzt, an dem sie unrecht getan haben,
sollst du das Weh empfinden, an dem du schuldig warst, sein wirst.
Durch die beständige Praxis der Erinnerung
wird das Leben der Ahnen, der früheren Generationen
wieder- ge - holt in das eigene Leben,
in die eigenen Zeit.
Doch das Wieder – Holen, das wieder - erinnern
bedeutet keine Wiederholung.
Und das ist nicht nur eine Frage der Betonung.
Kaum eine ethische Anweisung wird im Alten Testament
so oft und so nachdrücklich genannt wie die,
den Fremden nicht zu bedrücken.
Die Begründung ist die Erinnerung:
In der wunderbaren, nicht zu übertreffenden Übersetzung von Martin Buber heißt es:
„Den Gastsassen quäle nicht,
ihr selber kennt ja die Seele des Gasts
Denn Gastsassen wart ihr im Land Ägypten“.
Das ist Ethik aus Erinnerung.
Die Wieder - Holung der eigenen Erfahrung,
genauer der Erfahrung der früheren Generationen
bedeutet gerade nicht die Wiederholung des Erlebten.
Ginge es um die Wiederkehr des Immergleichen,
müsste die Folgerung ja heißen:
„Du darfst den Fremden bedrücken, dir ist es ja schließlich auch nicht besser ergangen
als du Fremdling warst in Ägypten“.
Die Ethik der Erinnerung, aus der und in der die biblischen Weisungen leben, heißt:
dem anderen gerade nicht anzutun,
was man selbst erfahren hat
Die alten Schlachten
nicht noch einmal schlagen,
Gewalt nicht mit Gewalt beantworten.
* * *
Der chassidische Rabbi Bunam sagte:
„Die Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung“.
Richard von Weizsäcker nahm diesen Spruch in seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 auf, um die Deutschen zu erinnern.
Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung.
Aus jüdischer Sicht ist das nicht nur ein Gedenktagspruch, es ist Lebenspraxis.
Selbst Gott läßt sich erinnern.
So, wie wir es in der Lesung gehört haben:
„Wenn ich Wolken aufwölke über der Erde,
dann wird der Bogen in den Wolken erscheinen
und ich werde mich an meinen Bund e r i n n e r n .
Darum soll mein Bogen in den Wolken sein,
dass ich ihn ansehe und e r i n n e r e an den ewigen Bund
zwischen Gott und allem Fleisch.
Der Bogen dient also zuerst der Erinnerung Gottes.
Er selbst setzt sich ein Erinnerungszeichen.
Gott bedarf der Erinnerung, um sich nicht zu vergessen.
Denn Anlässe zu neuen Fluten wird es genug geben.
Vergessen bedeutete hier vernichten,
Erinnern bedeutet retten.
* * *
Liebe Gemeinde,
Ethik aus Erinnerung – damit meint die Bibel:
„erinnere dich, damit du unterbrechen kannst“.
Das gilt in beide Richtungen:
Erinnere dich an deinen Schmerz, damit du anderen keinen zufügst.
Und erinnere dich an das, was dich und deine Vorfahren durchs Leben getragen hat,
damit du die Kreisläufe unterbrechen kannst,
die heute das Leben schwer machen.
Heute am vierten März und am Sonntag reminiscere
nehmen wir das Alte Testament als Vorlage und lassen uns sagen:
Fremde sollst du nicht Bedrücken, weil du selbst Fremd gewesen bist.
Gewähre Heimat, weil du selbst heimatlos warst.
Achte die Demokratie und setze dich für die Menschenrechte ein,
weil du weißt, wie es war, in einer Diktatur zu leben,
in der die Menschenrechte nichts zählen.
Überwinde die Gewalt, weil du weißt wie es ist,
wenn du und dein Volk Gewalt gegen andere Völker anwendet.
Lerne zu vergeben, weil du weißt, wie es ist,
mit unendlicher Schuld zu leben.
* * *
Diese ethischen Bitten oder Imperative leiten sich ab
aus der Ethik des Erinnerns, unseres eigenen Erinnerns.
Aber es gibt etwas, was davor liegt.
Was vor, oder vielleicht auch daneben oder darunter liegt. Oder mittendrin.
Das ist unser Gebet.
Wie in dem Psalm 25 der Beter spricht, oder wie ich bete:
„Herr, erinnere nicht die Sünden meiner Jugend und meine Übertretungen,
gedenke aber meiner nach deiner Barmherzigkeit, Herr um deiner Güte willen“.
Das ist ein Gebet.
Die Bitte um Vergebung unserer Schuld.
In jedem Vaterunser beten wir darum: „Vergib uns unsere Schuld“.
Noch mal Wiederholung!
Die Sprache des Gebetes ist immer beides:
das Wieder – holen der Erfahrungen der Generationen vor uns
und die Wiederholung.
Ein Gebet verdirbt nicht durch häufigen Gebrauch.
Und: Nirgendwo wird der Glaube so sehr zur permanenten lebendigen Erinnerung
wie in der Liturgie. Liturgie ist institutionalisiertes Gedächtnis.
In den symbolischen Handlungen, im Bekennen und Beten
wird erfahrenes Leid und geschenktes Heil gegenwärtig.
Liebe Schwestern und Brüder,
Sie haben am Eingang eine Karte bekommen.
Auf dieser ist eine Skulptur von dem Bildhauer Axel Richter zu sehen.
Hier im Altarraum steht das Original.
Es wird eingerahmt durch zwei weitere Skulpturen.
Sie heißen „Kyrie eleison“, - Herr erbarme dich
und „Dona nobis pacem“, gib uns Frieden.
Anfang und Abschluss der Messe,
Anfang und Ende unserer Liturgie.
Zwischen dem Kyrie eleison und dem dona nobis pacem
steht Zerbruch und Aufbruch.
Nicht nur hier vorn bei den Skulpturen.
Auch in unserem Leben.
Vielleicht war die Skulptur mal eine Kugel?
Aber es fehlt etwas.
Das Runde, Heile wird es nicht mehr geben.
Weil etwas eingetreten ist, das nicht mehr rückgängig zu machen ist.
In meinem Leben oder im Leben meiner Eltern,
Ureltern, der Generationen vor mir.
Aber aus Zerbruch kann Aufbruch,
aus Gewalt kann Gewalt überwinden werden,
wenn die Erinnerung, keine Wiederholung ist.
Das Unheile, das Zerbrochene kann eine Chance sein.
Sehen wir genau hin, verändern wir die Perspektive:
Die Schnittflächen bilden einen S t e r n!
Das ist unser Gebet:
lebenslang fähig zu bleiben, neue Perspektiven zu gewinnen,
Urteile zu korrigieren, Verhalten zu ändern,
auf Vergebung hoffend.
Lasst uns den guten Stern finden.
Amen
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