|  | Ansprache am Saseler Markt vor dem Trauermarsch anlässlich der Bücherhallen-Schließung, am 24.2.07; von Thomas Jeutner 
										
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											|  | Fünfstündiger Protest-Fußmarsch mit einer 100 Jahre alten "Schottschen Karre" von der Saseler Bücherhalle bis zum Hamburger Rathaus - am 24.2.07 |  |  
											|  |  |  |  Liebe Saseler, liebe treuen Freunde der Bücherhalle,
 liebe Leserinnen und Leser!
 
 
 Auf über zwei Jahre intensiven Einsatz
 für unseren Stadtteil blicken wir heute zurück.
 
 Manche sagen: „Gebt nun auf, ihr habt verloren.
 Gegen die Entscheidungen der da oben
 könnt ihr doch nichts machen“.
 
 Aber die uns raten, aufzugeben,
 haben nicht bedacht,
 wie viel Durchhaltekraft die Saseler haben!
 
 * * *
 
 Wir haben viel erreicht!
 Unser eindringlicher Ruf
 „Lasst die Bücherhalle in Sasel“
 ist durch alle Ritzen ins Hamburger Rathaus gedrungen.
 In vielen Gremien der Politik und der Verwaltung
 hat man über uns Saseler gesprochen.
 
 Denn mit unserer Energie hat niemand gerechnet.
 Man hat sich darüber gewundert,
 dass wir uns nicht totschweigen ließen,
 sondern den Mund aufmachten.
 
 Wir sind zu Hunderten auf die Straße gegangen,
 haben zu Tausenden Unterschriften gesammelt
 in unserem Bürgerbegehren für den Erhalt der Bücherhalle.
 Wir haben demonstriert,
 Aktionen gemacht,
 und Mitstreiter gesucht und viele gefunden!
 
 Bis zuletzt
 haben wir die Hoffnung nicht aufgegeben,
 dass unsere Bücherhalle dort bleiben kann,
 wo sie hingehört:
 
 Hier, in das älteste Gebäude am Markt,
 wo das Leben pulsiert.
 Sie soll jetzt umziehen
 in den Hinterhof der ECE am Heegbarg,
 
 aber sie gehört hierher,
 an eine der ersten Adressen unseres Stadtteils,
 in dieses Haus mit Tradition,
 in dem 1929 die erste Leihbücherei Sasels eröffnet wurde!
 
 * * *
 
 Wir haben lange die Hoffnung nicht aufgegeben,
 dass die Vernunft siegt
 und die Senats-Entscheidung
 zur Schließung zurück genommen wird.
 
 Damit Stadtteile wie Sasel nicht zu Schlaforten verkommen,
 sondern lebendige Begegnungen ermöglichen.
 Dazu sind öffentliche Räume nötig!
 Deshalb brauchen wir die Bücherhalle
 nicht am großen Einkaufszentrum der Luxusklasse,
 wir brauchen sie hier in Sasel,
 im Alltag der einfachen Leute,
 wo es kurze Wege gibt zur Bücherhalle,
 vor allem für die Kinder und die älteren Menschen.
 
 * * *
 
 Wir haben lange die Hoffnung nicht aufgegeben,
 dass die Vernunft siegt.
 Und was haben wir erreicht?
 In Hamburg sind alle zwei Jahre Bücherhallen geschlossen worden.
 Insider in der Verwaltung wundern sich schon – dass es jetzt keine weiteren Schließungspläne mehr gibt.
 Der Saseler Protest hat in der Politik Nachdenken ausgelöst!
 
 * * *
 
 Wir haben lange die Hoffnung nicht aufgegeben,
 dass die Vernunft siegt.
 
 Vaclav Havel, dessen Bücher hier
 jetzt in Kartons für den Umzug gepackt werden,
 sagte einen guten Satz über die Hoffnung:
 
 „Hoffnung ist nicht die Überzeugung,
 dass etwas gut ausgeht,
 sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat,
 egal wie es ausgeht“.
 
 Und wofür wir eingetreten sind
 in diesen zwei lebhaften Jahren,
 hatte einen großen Sinn!
 
 Sich Einsetzen für die Belange der Menschen,
 für die Freiheit und Erreichbarkeit öffentlicher Räume,
 und der Erhalt attraktiver Stadtteilzentren
 hat großen Sinn!
 
 * * *
 
 Wenn dem Männerchor SALIA damals 1928
 gesagt worden wäre:
 „Passt auf, es hat gar keinen Zweck, am Saseler Markt
 eine Schubert-Linde zu pflanzen,
 weil dort in 80 Jahren vielleicht einmal eine große Straße (sog. Ring 3) vorbei führt“ –
 -	hätten sie denn damals die Hoffnung aufgegeben?
 
 Nein, sie haben ihre Hoffnung behalten.
 Sie pflanzten ihre Linde
 als ein Zeichen ihrer Liebe zur Musik, zur Gemeinschaft
 und zu ihrer Heimat Sasel!
 
 Die Schubert-Linde ist groß geworden.
 Und obwohl jene gestorben sind, die sie pflanzten,
 ist deren Hoffnung noch unter uns lebendig:
 Die Hoffnung, dass es einen Sinn hat,
 solche Zeichen zu setzen!
 
 Die Schubert-Linde erinnert ja an Schubert selbst,
 und an sein größtes Werk, die
 8. Symphonie in h-moll.
 Obwohl sie unvollendet blieb,
 ist sie in die Geschichte eingegangen!
 
 Schubert war 25 Jahre alt,
 als er seine große Symphonie komponierte,
 und sechs Jahre später ist er gestorben.
 Die „Unvollendete“ blieb noch über vierzig weitere Jahre verschollen,
 bis jemand zufällig die Noten fand
 und die Musik zum ersten Mal aufgeführt werden konnte!
 
 Nur zwei fertige, atemberaubende Sätze existieren,
 der Rest – blieb unvollendet.
 Vom Rest gibt es nur noch
 neun Takte, und ein paar Notenskizzen.
 
 * * *
 
 So wird auch vieles, was wir heute tun, unvollendet bleiben –
 skizzenhaft,
 und dabei nicht ohne Sinn sein.
 
 Der zweijähriger Kampf der Saseler
 um den Verbleib ihrer Bücherhalle
 hat leider den Umzug nicht verhindert.
 Unser Einsatz bleibt unvollendet,
 und hat dennoch seine Würde nicht verloren!
 
 * * *
 
 Lange war Schuberts „Unvollendete“ verschollen –
 erst später ist sie erklungen und hat die Menschen verzaubert.
 
 Lange brauchte unsere Schubert-Linde,
 um groß zu werden,
 um sich jetzt wieder hinein zu wachsen in das Stadtteilgedächtnis!
 
 Und wie lange wird es brauchen, bis unsere Kinder sich erinnern,
 wie wir hier,
 alte und junge,
 vom Kinderwagen bis zum Gehwagen,
 für die Bücherhalle durch den Stadtteil demonstriert sind?
 
 Wie lange wird bei unseren Kindern jene Stunde nachwirken,
 als wir hier zu Hunderten den Marktplatz umarmt haben,
 in einer riesigen Menschenkette, Hand in Hand?
 
 Wenn unsere Kinder sehen,
 dass Eltern und Großeltern
 und Nachbarn und Geschäftsleute
 nicht gleichgültig sind
 sondern sich einsetzen für eine gute Sache,
 
 dann ist das eine gute Saat,
 die aufgehen wird!
 
 Dann ist das Hoffnung,
 die sich nicht unterkriegen lässt,
 auch wenn unser großer Anfangswunsch
 unvollendet bleiben muss.
 
 * * *
 
 Zeichen unserer Hoffnung
 ist nachher auch unser stundenlanger Weg,
 zu Fuß in die Innenstadt,
 zum Hamburger Rathaus.
 
 Wir gehen mit der Schottschen Karre,
 die hundert Jahre alt ist,
 mit der die Großeltern vieler Saseler
 ihre Habseligkeiten aus den Arbeitervierteln
 hierher trabsportierten,
 und sich hier eine Existenz aufbauten.
 
 So eine Karre ist das Gegenteil von Luxus.
 Nur Wichtiges transportiert man auf ihr,
 was man wirklich braucht,
 wir haben sie deshalb mit Büchern beladen!
 
 Diese Karre ist Zeichen des einfachen Lebens,
 und Zeichen dafür,
 dass es eine Kärrner-Arbeit ist,
 seine Hoffnung zu behalten
 bei soviel Gegenwind aus dem Rathaus!
 
 * * *
 
 So ist unser Marsch der Leser
 ein Weg des Protestes.
 Das Hamburger Pflaster
 nehmen wir unter unsere Füße
 und werden uns die Trauer und Wut abtreten,
 dass unser Einsatz unvollendet blieb.
 
 Und wenn Anfang April, in der Karwoche,
 die Kartons kommen für den Umzug ans AEZ,
 rufen wir allen zu,
 die frohlocken wollen,
 dass der Saseler Widerstand dann ein Ende haben möge:
 
 „Ihr könnt vielleicht die Bücherhalle einpacken,
 aber nicht uns und unseren Zusammenhalt!
 
 Ihr könnt vielleicht unsere Bücher fortnehmen,
 aber niemals unsere Hoffnung!“
 
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