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Wie können wir unsere Scham in Worte fassen? Ansprache der Stolperstein-Historikerin Hildegard Thevs in der Ansprache am 8. Mai 2011 in der Vicelinkirche
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Stolperstein-Gottesdienst in der Vicelinkirche Sasel, 8. Mai 2011 |
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Hildegard Thevs, Stolpersteinhistorikerin; Hamburg Hamm, Tel. 040-219 13 28
Liebe Gemeinde,
ich arbeite ehrenamtlich für das Stadtteilarchiv Hamburg-Hamm im Hamburger Stolpersteinprojekt mit. Von Haus aus bin ich Lehrerin und habe an der Wichern-Schule des Rauhen Hauses unterrichtet. Auf einer Tagung lernte ich Frau Elisabeth Lamprecht kennen. Sie fühlte sich von dem Projekt angesprochen und brachte es in diesen Gottesdienst ein. Dafür danke ich ihr und der Gemeinde sehr herzlich, denn ich halte das gesamte Stolpersteindenkmal für ein großes Werk der Versöhnung und Freiheit. Es liegt mir sehr am Herzen, denn es bewirkt Heilung und bringt zurück, was uns verloren gegangen ist, wie es bei Hesekiel anklingt.
Allein die Möglichkeit, dass für einen verschwundenen Nachbarn, einen verleugneten Bruder, eine verschwiegene Großmutter, einen vergessenen Onkel, eine aus der Erinnerung verdrängte Cousine ein Stolperstein gesetzt werden könnte, bringt Ruhe in das Leben vieler Menschen. Sie ahnen, dass aus den schemenhaften Fetzen, aus denen sie sich ein vages Bild eines Menschen gemacht haben, ein einigermaßen klares Schicksal werden kann. Sie erleben, dass es einen Abschluss geben kann für eine lebenslange Suche. Wenn wir nicht nach eigenen Angehörigen oder Nachbarn suchen, beschäftigt uns doch deren Verschwinden und das von ganzen Gruppen aus der Gesellschaft: Juden, Sinti und Roma, Kommunisten, Homosexuelle, Asoziale, Menschen mit Behinderungen, Deserteure, Oppositionelle. Stolpersteine für sie regen uns dazu an, darüber nachzudenken, was wir verloren haben, den Verlust zu betrauern und ehrlich über unsere heutige Einstellung gegenüber gesellschaftlich Ausgegrenzten nachzudenken.
Was hat es mit diesen heilsamen Steinen für eine Bewandtnis?
Der Kölner Künstler Gunter Demnig begann aus einem aktuellen Anlass mit einer Aktion zur Erinnerung an die aus Köln verschleppten Sinti und Roma. Das war zu einer Zeit, als noch darüber gestritten wurde, ob man zentrale oder dezentrale Denkstätten fördern sollte, ob getrennte Denkmäler für die einzelnen Opfergruppen oder gemeinsame errichtet werden sollten. Ihm kam es darauf an, bewusst zu machen, dass es Menschen aus der Nachbarschaft waren, die entrechtet, verfolgt und vernichtet wurden und dass dieses Geschehen vor der eigenen Wohnungstür stattfand. Darin steckte kein Vorwurf der Mitwisserschaft, sondern er wollte die Personen an ihren Wohnort zurückbringen, in ihre Gemeinde, in ihre Familie. Zugleich sollten diese vielen kleinen Erinnerungsmale ein großes Denkmal werden.
Gunter Demnig konzipierte diese individuellen Denkmäler als Betonwürfel von 10 cm Kantenlänge und als Träger des Textes mit einer Messingplatte darauf, die mit Laschen im Beton verankert ist. In die Messingplatte punzte er die Namen der Person, ihren Geburtsjahrgang, Stationen der Verfolgung, und, soweit bekannt, Todesort und Todesdatum. Diese Würfel betoniert er in den Bürgersteigen ein, damit die heute Lebenden darüber stolpern, mit dem Kopf, nicht mit den Füßen.
Ein Hamburger Kunstsammler und Förderer junger Künstler, Peter Hess, erfuhr von Gunter Demnigs Arbeit in Köln und holte sie und ihn nach Hamburg.
Inzwischen liegen hier über 3500 Stolpersteine. Messing oxydiert und muss geputzt werden. Am einfachsten geschieht das, indem man darüber geht. Da das die meisten Menschen vermeiden, sind diese Steine doppelt anstößig, als seien sie vernachlässigt.
Woher kommen die Informationen auf den Steinen?
Angehörige, Hausgemeinschaften, die sich der Verschwundenen erinnern, und Zeitzeugen lieferten die ersten Namen und Adressen. Dabei stellte sich bald ein großes Problem heraus: Für Juden wurde häufig die Adresse angegeben, von der aus sie deportiert wurden. Dahin waren sie aber meist zwangsweise erst kurz vor dem Transport in den Osten gezogen, wie Familie Hofmann, die auf Weisung der Gestapo in der Schlachterstr. 47 gegenüber vom Michel untergebracht wurde. So finden Sie heute vor ehemaligen „Judenhäusern“, innerstädtischen Gettos zur Vorbereitung der Deportation, eine Konzentration von Stolpersteinen.
Die wenigen Informationen auf den Steinen reichen denen, die sie in Auftrag geben, meist nicht, so dass sie entweder selbst nach weiteren Spuren suchen, oder Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Geschichtswerkstätten forschen ihrerseits. Eine Initiative von Homosexuellen hatte bereits begonnen, nach ihren ermordeten Freunden zu suchen. Sie hat sich auch Rudolf Nürnbergs angenommen.
Mehrere Menschen, die gern mit forschen wollten, haben aufgeben, weil sie das Grauen nicht ertrugen. Sie tun nun als Paten oder Patinnen für Stolpersteine das ihnen Mögliche zum Gedenken bei. Für uns, die wir dabei bleiben, ist ein großer Schritt zur Bewältigung des scheinbar Unfassbaren dessen Gestaltung in einer biographischen Skizze. Manchmal gibt es Angehörige oder frühere Nachbarn, die Ereignisse erinnern, Briefe oder Fotos besitzen. Diese Erinnerungsstücke beleben die sonst meist sehr trockenen biographischen Texte wesentlich. Fast immer gibt es irgendwo ein Dokument, das die Person nennt, und wenn es der Eintrag in der Deportationsliste oder im Sterberegister ist. Die so aufbereiteten Biographien werden von der Landeszentrale für politische Bildung zusammen mit dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Broschüren veröffentlicht. Wegen der geringen Zahl von Stolpersteinen in Sasel werden die Lebensgeschichten von Anni, Arnold, Ilonka und Lina-Charlotte Hofmann und Rudolf Nürnberger in einem Sammelband aufgenommen werden. Alle anderen jüdischen Bewohner Sasels haben entweder in sog. „privilegierten Mischehen“ mit einem nichtjüdischen Partner oder als sog. „Mischlinge“ überlebt. Nach weiteren Opfern – Behinderte, Oppositionellen – muss weiter geforscht werden. Bekannt ist, dass 1933 Kommunisten in Fuhlsbüttel erschlagen wurden.
Entscheidender für den Versöhnungsprozess als die kostbaren Illustrationen, die Angehörige oder Nachbarn beitragen, sind die Gespräche mit ihnen und mit den Paten. Die Erinnerungen zu erfassen und zu ordnen, sie in größere Zusammenhänge einzufügen, ist der heilsamste Schritt in dieser Begegnung mit den fernen und doch so nahen Toten. Was war individuelles Schicksal, was kollektives? was war bewusste Entscheidung, was hilfloses Ausgeliefertsein, welche Spielräume bestanden, wer hat sie wie genutzt? Diese Fragen bewegen Opfer, Täter und Zuschauer in gleicher Weise.
Und dann die noch schwereren Fragen: Wer sprach nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs über sein Erleben, als Täter bzw. Täterin oder als Opfer als beides? Zu wem konnte man sprechen, mit welchen Worten und in welcher Absicht? Wer schwieg, und warum?
Die meisten Menschen hatten und haben keine Worte, keine Sprache für persönlich begangene und empfundene Schuld. Diejenigen, die geschossen, tödliche Spritzen gesetzt oder Menschen vergast oder Beihilfe dazu geleistet haben, wussten, dass sie Unrecht taten, auch wenn sie sich auf Pflicht und Gehorsam beriefen. Sie wussten, dass es andere gab, die ihr Leben riskierten, sich dem Mordgeschäft verweigerten, keine Schnäppchen von enteigneten Juden erwarben und sogar Verfolgten halfen. Wie hätten sie ihre Scham in Worte fassen können? Und können wir es heute?
Wer hätte ihnen helfen können, sich Schuld und Scham anzusehen und damit weiter zu leben? Um sie herum gab es damals, anders als heute, keine Hilfe. Wer psychologisch geschult war, war im Exil oder tot oder gehörte zu der verschwindenden Minderheit, die die Mehrheit daran erinnerte, dass der Rausch von Größe von Führer, Volk und Vaterland halt ein Rausch war. Dabei mitgemacht zu haben, widersprach und widerspricht dem Selbstbild. Da konnte man nur schweigen. Wohin mit der Scham?
Auch die Opfer schwiegen. Wer wollte schon hören, was nicht in Worte zu fassen war? Zuhören war genauso wenig geübt wie reden über Schuld und Scham. Dass sich Täterschaft und Opfersein mischen konnten, war so schwierig zu denken und auszuhalten, dass sich noch heute viele Menschen einseitig in der Opferrolle eingerichtet haben. Die Soldaten, die unfreiwillig kämpften und fielen, die Flüchtlinge und Vertriebenen, die Bombenopfer – viele von ihnen schuldig und unschuldig zugleich.
Wer will, kann inzwischen dank Seelsorge, historischer und sozialpsychologischer Forschung und Psychotherapie hinsehen, klären und ertragen lernen, was schwer erträglich ist. Dazu braucht man Neugier und Mut.
Die Toten, deren Namen durch die Stolpersteine bekannt werden, beschenken uns mit Nachdenken. Die Stolpersteine an Stelle von Grabsteinen sind Orte der Erinnerung an den Verlust von Einzelnen und Millionen von anderen, erinnern uns an die Verluste von Lachen und Weinen, Wissen und Kreativität und an die Auslöschung von Menschlichkeit. Für Angehörige und für uns gibt es nun einen Ort der Trauer und eine Rückholung des Verlorenen in einen größeren Zusammenhang. Dieser Zusammenhang ist ein ideeller wie ein künstlerisches und menschliches Netzwerk.
Der verschwundene Nachbar heißt nun Arnold Hofmann, der verleugnete kommunistische Bruder Siegfried Krauss, die fast verschwiegene, national eingestellte jüdische Großmutter Meta Rosenschmied, der verschwundene homosexuelle Freund Rudolf Nürnberg, die aus der Erinnerung verdrängte behinderte Cousine Helga Sonnemann. Sie gehören wieder zu ihren Familien, aus denen sie hervorgegangen sind, zu ihren Nachbarschaften und Gemeinden und zu uns. Niemand braucht sich ihrer zu schämen – und auch nicht seiner selbst.
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