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Wer stolpert über seine Geschichte? Der Saseler Homosexuelle Rudolf Nürnberg nahm sich 1939 im KZ Fuhlsbüttel das Leben. Gedenken am Volkstrauertag 2010

Stolperstein am Waldweg Nr. 52

Ansprache zum Volkstrauertag (Ehrenmal Sasel) 14. November 2010, 11.30 Uhr

Liebe Saseler!

An diesem Volkstrauertag sehen wir zurück auf 65 Jahre,
die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen sind.
Sechseinhalb Jahrzehnte – und immer noch quält die Erinnerung an jene,
die zu uns gehörten:
aus unseren Familien, aus den ehemaligen Schulklassen,
aus unserer Gemeinschaft hier in Sasel.

Niemals kann man ständig diese Fragen,
und manche nie gestillte Trauer mit sich herum tragen.
An einem Tag wie heute aber
suchen wir die Gemeinschaft.
Wir haben uns Zeit genommen,
um heute Mittag hier beieinander zu sein im Saseler Park.

Jede und jeder von uns
hat von der damaligen Zeit des Krieges eigene Bilder im Kopf.
Manche haben es als Kinder und Jugendliche erlebt,
wie nach den Bombennächten hunderte Überlebender mit Wagen und Karren
aus der Innenstadt herauf zogen,
durch Sasel, weiter nach Bergstedt, Bargteheide, und weiter nach Norden,
in eine ungewisse Zukunft.
Viele von den Saselern, die heute hier alt geworden sind,
kamen selbst aus den zerstörten Stadtteilen,
und fanden hier eine Bleibe und neue Heimat.

* * *

Bilder sind das, die auftauchen aus der Seele.
Geschichten sind es, die erzählt werden müssen.
Einer jüdischen Familie aus Sasel
haben wir vor vier Jahren gedacht,
die im Sommer 1942 von der Hohen Reihe aus
nach Auschwitz deportiert wurde.
Niemand kam zurück.

Zu der Gedenkstunde für diese Familie
waren damals über 100 Menschen ins Saselhaus gekommen.
Jetzt erinnert ein Stolperstein vor ihrem ehemaligen Haus
an Charlotte und Arnold Hofmann,
an ihre Tochter Anna und die Enkelin Ilonka,
die nur vier Jahre alt geworden ist.

* * *

Inzwischen liegt ganz in der Nähe,
am Waldweg Nr. 52, ein weiterer Stolperstein.
Darauf steht der Name „Rudolf Nürnberg“.
Er war ein Bautechniker, lebte mit seiner Familie in Sasel.
Er war verheiratet und hatte einen Sohn.
Wegen Vergehens nach Paragraph 175 des Bürgerlichen Gesetzbuches
wurde er inhaftiert, im KZ Fuhlsbüttel.

Hinter diesem Paragraphen verbarg sich
der damalige Straftatbestand der Homosexualität.
Sie galt im Nationalsozialismus als "artfremd".
Und nach sog. "rassenhygienischen Gesichtspunkten" als "ungesund".

Lag die Höchststrafe früher bei sechs Monaten Gefängnis,
erhöhten die Nationalsozialisten die Haft auf fünf Jahre Zuchthaus.
In sogenannten verschärften Fällen sogar auf zehn Jahre.

Vom Schicksal des Saselers Rudolf Nürnberg
wissen wir wenig, eigentlich gar nichts.
Nur ein 2005 erschienenes Buch
über die nationalsozialistische Verfolgung von Homosexuellen in Hamburg
listet ein paar Zeilen mit Lebensdaten auf.
Neben dem Schicksal hunderter anderer
steht auch seines:

Als er 63 Jahre alt war,
wurde er am 28. Februar 1939 verhaftet.
Eine Woche verbrachte er im Konzentrationslager Fuhlsbüttel.
Dann wurde er in die städtische Untersuchungs-Haftanstalt überstellt.
Dort erhängte er sich vier Wochen später in seiner Zelle,
am 18. April.
Es war ein Dienstag.
Eine Woche nach Ostern.

* * *

Das wenige, was wir von ihm wissen,
sind nur diese Daten aus den Gefängnisakten,
die in heutiger Zeit jemand ausgewertet hat,
mehr als 70 Jahre nach seinem Tod.

Wer von uns,
der an seinem Gedenkstein am Waldweg vorüber geht,
wird stolpern über seine Geschichte?
Wer wird noch wissen,
dass zu den Opfern der Gewaltherrschaft,
derer wir heute gedenken,
auch rund 100.000 Homosexuelle gehörten,
die in einer extra eingerichteten SS-Reichszentrale erfasst wurden.

50.000 von ihnen wurden verurteilt.
Die Verhaftungen stützten sich in den meisten Fällen darauf,
dass Nachbarn denunziert
oder gleich angezeigt haben.
Auch aus Betrieben und Behörden kamen Anzeigen.

Die Inhaftierten wurden nach Verbüßung der ihnen verhängten Gefängnisstrafe, manchmal aber auch, ohne gerichtliche Verurteilung,
von der Gestapo oft in Konzentrationslager verschleppt.
Sie mussten dort den Rosa Winkel tragen.
Ein Abzeichen, das sie im Lager als Homosexuelle kennzeichnete.

Man schätzt heute eine Zahl von 15.000 Menschen,
die wegen des § 175 ins Lager kamen,
von denen nur die Hälfte jene Zeit überlebt hat.

Einige der Überlebenden wurden nach ihrer Befreiung durch die Alliierten
wieder zurück an ein Gefängnis überstellt,
weil sie ihre Freiheitsstrafe noch nicht vollständig verbüßt hatten.
Denn der § 175 in der Fassung des Dritten Reiches
war weiterhin gültig.
In der DDR bis 1950,
in der Bundesrepublik bis 1969.

So konnten viele Betroffene jener Zeit
sich bis weit in die 70er Jahre hinein nicht sicher fühlen,
ihre Geschichte zu erzählen.

* * *

Auch die Geschichte von Rudolf Nürnberg
verliert sich im Dunkel der Ereignisse.
Es ist der Stolperstein-Aktion von Gunter Demnig zu danken,
dass er auch an jene
zu Unrecht vergessenen und verschwiegenen Opfer der Gewaltherrschaft erinnert:
Mit einer besonderen Verlegung von Steinen
für Homosexuelle, die den Tod fanden.

Die Schirmherrschaft für diese Aktion,
die auch die Verfolgtengruppen der Lesben,
der Fremden, der Juden, der Sinti und Roma einschließt,
hat die Evangelische Kirche
in Hamburg übernommen.

* * *

"Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist",
sagte uns der Künstler Gunter Demnig,
als wir vor vier Jahren im Herbst dabei waren,
und er die vier Steine für die Familie Hofmann an der Hohe Reihe verlegte.

Als er im letzten Herbst
den Stein für Rudolf Nürnberg am Waldweg verlegte,
war niemand von uns dabei.

Aber irgend jemand hatte sich erinnert,
dass er dort in seinem Haus an der Nr. 52 lebte.
Stellvertretend für unzählige Vergessene
kann man dort seinen Namen,
seinen Geburtstag, und seinen Todestag lesen,
im Vorübergehen.

Heute – an diesem Gedenktag aber,
sind wir nicht vorüber gegangen.
Wir haben einen Moment angehalten,
bei seinem Schicksal, bei seiner Geschichte.

* * *

Sich Erinnern, sich dem Bitteren aussetzen,
es nicht verdrängen - das ist Arbeit.
Arbeit ist auch das Wachhalten,
das Wachsam sein.
Wie gut, dass die Geschichte nicht stehen bleibt.
Systeme, auch die totalitären Systeme vergehen.

Wir Menschen, die wir in ihnen gelebt haben,
und noch da sind –
haben deshalb den Auftrag der Wachsamkeit.
Der Volkstrauertag erinnert an unsere Verantwortung,
dass wir Schuld und Fehler in der Vergangenheit unseres Volkes wachrufen
und daraus lernen.
Es gibt keinen anderen Weg zur Versöhnung
und zum friedlichen Zusammenleben der Menschen.

Wenn Fremde und Zugewanderte verunglimpft,
wenn Unbequeme und Andersdenkende angefeindet werden,
müssen wir differenziert nachfragen, was dort geschieht.

Wenn unser Land Krieg führt wie in Afghanistan,
müssen wir wachsame Fragen stellen.
Im Oktober ist der 44. deutsche Soldat
dort ums Leben gekommen.

Es gilt für alle Zeiten von Gewaltanwendung der Satz:
„In einem Krieg
gibt es keine Sieger,
nur Verlierer“.

* * *
In diesem Geiste lasst uns
am Schluss das Totengedenken halten:


Wir denken heute
an die Opfer von Gewalt und Krieg,
an die Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

Wir gedenken
der Soldaten, die in den Weltkriegen starben,
der Menschen, die durch Kriegshandlungen
oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene
und als Flüchtlinge ihr Leben verloren.

Wir gedenken derer,
die verfolgt und getötet wurden,
weil sie einem anderen Volk angehörten,
einer anderen Rasse zugerechnet wurden
oder deren Leben wegen eine Krankheit oder Behinderung
als lebensunwert bezeichnet wurde.

Wir gedenken derer,
die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen die Gewaltherrschaft geleistet haben,
und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder ihrem Glauben festhielten.

Wir trauern
um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage,
um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung.

Wir gedenken heute auch derer,
die bei uns durch Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache
Opfer geworden sind.
Wir trauern
mit den Müttern und mit allen, die Leid tragen um die Toten.

Aber unser Leben steht im Zeichen
der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern,
und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen, zu Hause und in der Welt.


* * *

Otto Eduard Rudolf Nürnberg, geb. 26.11.1875 in Hamburg, Selbstmord am
18.4.1939 im Untersuchungsgefängnis Hamburg

Stolperstein: Sasel, Waldweg 52


Der Bautechniker Rudolf Nürnberg wurde am 26. November 1875 in Hamburg als
> Sohn des Landvermessers Wilhelm Nürnberg und der Emma, geb. Eberhardt,
> geboren. Er war seit 1904 mit Frieda, geb. Kuchel, verheiratet und hatte mit
> ihr einen Sohn Johann, der kurz nach der Eheschließung geboren wurde.
> >
> Rudolf Nürnberg gehört zu den Homosexuellen, über deren Schicksal nur noch
> spärliche Hinweise möglich sind, da sich weder die Ermittlungsakten von
> Polizei und Gestapo noch von der Staatsanwaltschaft zu diesem Fall erhalten
> haben. Daher können hier keine weiteren Details aus seinem Leben berichtet
> werden, außer der Tatsache, dass er in Sasel wohnhaft war, während seine
> Frau in der Steilshooper Straße 147 in Barmbek-Nord gemeldet war.
> >
> Wegen des Verdachts eines versuchten Vergehens nach § 175 a, Ziffer 3, StGB
> gab es einen Untersuchungshaftbeschluss vom Amtsgericht Hamburg vom 9. März
> 1939. Zuvor wurde er seit dem 2. März für das 24. Kriminalkommissariat, das
> für Homosexuellendelikte in Hamburg zuständig war, im KZ Fuhlsbüttel
> festgehalten von wo aus er in die Untersuchungshaftanstalt Hamburg-Stadt
> überführt wurde.
>
> > In der Haft wurde nichts Auffälliges über Rudolf Nürnberg vermerkt, es hieß,
> Selbstmordgedanken habe er nie geäußert, noch habe sein Benehmen auf
> Selbstmord schließen lassen.
>
> > Dennoch beging er am 18. April 1939 Suizid durch Erhängen in seiner Zelle im
> Untersuchungsgefängnis an der Holstenglacis 3 und gehört somit zu den gut 20
> Prozent der Hamburger Opfer der Homosexuellenverfolgung, die als einzigen
> Ausweg eine „Flucht in den Tod“ sahen.
>
> > Da sein letzter frei gewählter Wohnort am Waldweg 52 in Hamburg-Sasel war,
> soll dort ein Stolperstein an sein Schicksal erinnern.
>
>
> Quellen: StaH, 213-8 Staatsanwaltschaft Oberlandesgericht – Verwaltung, Abl.
> 2, 451 a E 1, 1 d; StaH; 242-1 II Gefängnisverwaltung II, Ablieferungen 12,
> Nürnberg und 16; 331-5 Polizeibehörde – Unnatürliche Sterbefälle, 801/39; B.
> Rosenkranz/U. Bollmann/G. Lorenz: Homosexuellen-Verfolgung in Hamburg
> 1919–1969, Verlag Lambda Edition, Hamburg 2009, S. 240–241.










 
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