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Predigt am Sonntag 16.6.2013, Vicelinkirche, zum Abschied aus Sasel

Ab August ist Thomas Jeutner Pfarrer der Berliner Versöhnungsgemeinde: www.versoehnungskapelle.de

Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir gutes getan hat. Ps. 103, 2


Liebe Schwestern und Brüder,

ein Mann mit Fahrrad näherte sich am Montagvormittag unserem Weltladen.
Im Laden saßen wir gerade sehr vertieft in einer Sitzung,
von unserem Verwaltungsausschuss.

Zielsicher strebte der Mann zur Ladentür.
Er fasste die Klinke an.
Und ließ sie enttäuscht wieder los.

Es muss ein Fremder gewesen sein.
Jedenfalls einer, dem unser Laden fremd war.
Sonst hätte er gewusst,
dass wir montags nicht geöffnet haben.

Weil wir freundliche Menschen sind
und jedes noch so kleine Gespräch ein Kontakt ist,
eine Einladung für mehr - öffnete jemand von uns das Fenster.

„Ja“, meinte der Mann,
er habe sich wirklich gefreut auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen.
Damit wär`s ja nun nichts.
Weil er vom Marktplatz aus den blauen Kirchenbus gesehen hatte,
mit einer Aufschrift,
sei er überhaupt nur neugierig geworden
und auf unser Gelände gekommen.

„Aber“, was wir da auf den Bus geschrieben hätten, fügte er noch an,
was dort stehe von Gottes Behüten –
das sei großer Quatsch.

Nach allem, was er durchgemacht habe im Leben, könne er nur noch fragen:
„Wer glaubt denn so was?“

* * *

Da wir ihm im Moment weder mit Kaffee und Kuchen
noch wirklich mit Zeit dienen konnten,
nahm er freundlich Abschied,
und fuhr mit dem Rad seiner Wege.

Dankbar bin ich ihm für seine Frage.
Es ist eine sehr wichtige.

„Wer glaubt denn so was“?

Die Frage des Fremden kennen wir ja auch von uns selbst.
Sie ist manchmal zugedeckt von viel Alltag.
Davon haben wir in der Gemeinde auch viel:
den Alltag der Termine.
Der Vorhaben und Projekte.
Der Feste und Empfänge.
Sitzungen und Kreise.
Wir haben den Alltag mit seinen Überraschungen:
in der Verwaltung, im Bauen und Erhalten.

Dass wir als Gemeinde zusammen sind,
weil wir auf Gottes Behüten hoffen,
in meinem, in deinem Leben,
dieser einfache und wichtigste Grund, dass es uns gibt als Kirche Sasel,
ist manchmal zugedeckt.

Mit der Frage vom Montag -
„Wer glaubt denn so was“,
liegt das Zugedeckte wieder offen.

Offen liegt das Wagnis, die Herausforderung,
dass ich meine eigene Antwort auf diese Frage finden muss.

Denn - Ja, ich möchte einer sein,
der so was glaubt.

Ich möchte einer sein,
der mit anderen zusammen arbeitet
für das Heilwerden der Welt, für das Gelingen unserer Beziehungen,
da wo ich lebe.

* * *

Der Psalm für diese neue Woche erinnert an eine Kraft,
die in unserem Wagen,
in unserem Arbeiten und Glauben immer mitgeht.

So heißt es in Psalm 103, 2:

Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Ps. 103, 2

Es ist der Psalm für diese Woche,
die meine letzte ist im Dienst unserer Saseler Gemeinde.

* * *

„Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“.

Ja, leicht vergessen wir,
dass wir alles Getane, Geschaffte, Gelungene
nicht nur uns selbst verdanken.

Leicht vergessen wir,
dass ja auch das Halbfertige, das Misslungene, und das nie Gewordene
mitgetragen ist,
von Gottes Kraft unter uns.

Das Glück, und das Leid,
es ist getragen.

* * *

„Wer glaubt denn so was?“ – hatte der Mann gefragt.

Mir wurde es leicht gemacht, in meinen zwölf Saseler Jahren,
das Getragensein zu glauben.

Denn ich habe Wunder erlebt:

Dass Menschen zueinander fanden.
Zu einer Aufgabe, die für sie passte.
Zu einer Gemeinschaft, die sie suchten.
Zur Freiheit von einer Vergangenheit, die sie quälte.
Zu einem Leben, von dem sie wieder etwas erwarten.


Ich bin dankbar dafür,
dass ich hier, unter Euch,
selbst ein Erwartender, ein Suchender sein durfte.
Ein Suchender nach Gottes Begleiten
in dem, was uns hier bewegt.
Ein Suchender nach der richtigen Antwort, nach der richtigen Tat.
Ein Suchender nach dem richtigen Schweigen.

* * *

„Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“:

Nicht vergessen werde ich, was ich hier von Euch lernte.
Von meinen Kolleginnen und Kollegen.
Von allen Gefährtinnen und Freunden im Kirchengemeinderat.
Von allen Begegnungen in der Gemeinde und ihren Gruppen.

Ich lernte vor allem, wie reich Gemeinschaft ist,
wenn alle Gaben der Einzelnen aufblühen können.

Ich lernte auch, dass zu diesem Blühen,
wie in einem richtigen Garten,
Zeit vergehen muss.

Ich lernte, diese Zeit mir selbst
und auch anderen zuzugestehen.

Ich lernte, wie gut es ist, getragen zu sein von meiner Familie,
von meiner Frau, und meinen so groß gewordenen Kindern!
Ein ganz besonderer Dank geht an Euch!



* * *

Nicht vergessen werde ich,
dass ich hier sein durfte, wie ich bin.
Mit meinen Gaben,
wie mit meiner Begrenztheit und meinen Fehlern.
Ich weiß, dass ich manche von Ihnen und von Euch
auch enttäuscht, und gekränkt habe.
Und bitte um Verzeihen.

* * *

Wenn ich in unserem Pfarrhaus
in den nächsten Tagen noch weiter die Kartons einpacke,
denke ich auch dankbar an die gewährte Freiheit die ich bei Euch spüre,
mit meiner Familie losgehen zu können.

Ich gehe zurück in die Berlin-Brandenburger Kirche,
die meine Heimatlandeskirche ist.
In ihrem Norden, in der Uckermark zwischen Prenzlau und Stettin,
liegt mitten in einem winzigen Dorf
eine kleine gotische Kirche, aus Feldsteinen.
1960 wurde ich dort getauft.

Als Taufspruch wurde mir dieser Vers aus Ps. 103 mitgegeben:

Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir gutes getan hat.

* * *

Dieses kleine uckermärkische Gotteshaus
gehört jetzt mir zur Nordkirche, es ist ganz im Osten ihr südlichster Zipfel.

Wer hätte das damals gedacht,
dass es einmal eine Ost und West verbindende Kirche geben würde?

„Wer glaubt denn so was“, dass Mauern fallen würden?

Und die Gedanken wandern zurück in die Monate der Friedlichen Revolution.
Als Hunderttausende auf die Straße gingen.
In den Händen hatten wir Kerzen,
die wir am Altar der Kirchen angezündet hatten.
Wir gingen raus, den Wasserwerfern entgegen,
und riefen „Keine Gewalt“.

„Wer glaubt denn so was?“
Ein hohes SED-Politbüro-Mitglied, Horst Sindermann,
sagte im Rückblick auf den Untergang der DDR:

„Wir waren auf alles vorbereitet;
nur nicht auf Kerzen, und Gebete“.

* * *

Ja, wir hatten auf die Kraft der Gebete gehofft,
und an den gewaltlosen Widerstand geglaubt.
Und die Mauern fielen.

Sonst stünden sie heute noch.
Und unsere Kinder würden nicht
in der weiten Welt leben und studieren.

Und wo früher im alten Berlin die Mauer verlief,
wo Mienen, Beton und Stacheldraht
das Ende unserer Welt markierten,
da steht heute eine kleine Kirche.
Sie trägt den Namen „Versöhnungskapelle“.
Dort werde ich meinen neuen Dienst als Gemeindepfarrer antreten.

* * *

Um die kleine Kapelle herum,
wo früher das Minenfeld war,
wächst heute ein Roggenfeld.

Von diesem Roggenfeld hat meine neue Gemeinde
uns für diesen Abschiedsgottesdienst einen Gruß gesendet:

100 Leinen-Säckchen, von Gemeindeleuten selbst genäht und gefüllt,
sind vor ein paar Tagen mit der Post angekommen.

Sie liegen hier auf den Bänken.
Nehmt sie einmal in die Hand,
spürt den Duft der Körner.
Und merkt, wie es sich anfühlt, wenn Leben dort neu wächst,
wo einst Abgrenzung und Tod lauerten.

„Wer glaubte denn so was?“

Gott sei Dank können wir glauben:
Dass wir in Gottes Barmherzigkeit geborgen sind,
mit allem, was er mir und dir Gutes getan hat.

So gilt für alles,
was gewesen ist,
und für alles, was vor uns liegt:

Lobe den Herrn, meine Seele.
Amen.


 
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